Emanzipation ist ein natürlicher Veränderungsprozess, der nach Individualität, Selbsterkenntnis und Verbesserungen im eigenen Leben strebt. Die Realisierung dieses Prozesses setzt gesellschaftliche Rahmenbedingungen voraus, in der jeder Mensch als ein gleichwertiger und lernfähiger Bürger angesehen und behandelt wird.
Ich hätte meinen Veränderungsprozess niemals in einem Land wie Iran oder Saudi-Arabien mit ihren theokratischen Systemen leben können, die männliche Kontrolle über den weiblichen Willen im Namen von Religion sichern.
Als Gläubige, die nicht mehr nur glauben, sondern verstehen wollte, nahm ich mir vor 13 Jahren mit Ablegen meines Kopftuches allmählich auch die Freiheit, Neudefinitionen von meinen Rollen im religiösen Kollektiv und den religiösen Begriffen, die mein Leben geprägt haben vorzunehmen.
Warum noch viele anderen muslimischen Frauen unsere gesellschaftlichen Möglichkeiten für ihre Selbsterkenntnisprozesse nicht nutzen finde ich merkwürdig. Denn der Prophet des Islam, Muhammed, forderte Männer und Frauen auf, „sich Wissen anzueignen, selbst wenn es in China sei“.
Wir Frauen müssen lernen, uns zu wehren und nicht mehr alles als Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Das Kopftuch ist in modernen Gesellschaften keine Selbstverständlichkeit und überflüssig. Sie schützt nicht, sie bringt Frauen sogar in Gefahr, weil andere Menschen vom Kopftuch auf den Islam schließen und ihre Vorurteile und Ängste auf das Kopftuch projizieren können.
Alles, was eine Frau einschränkt und sogar in Gefahr bringt, sollte sie aber ohne Schwierigkeiten weglassen können.
Im Koran heißt es in einem der beiden „Verhüllungsverse“, dass die gläubigen Frauen ihre Gewänder über sich ziehen sollen, damit sie erkannt und nicht belästigt werden. Hier geht es um die Vermeidung von Belästigungen, nicht um den Überwurf.
Heute wird aber das Mittel hochgehalten, nicht der Zweck.
Über den religiösen Glauben wird meistens gestritten, um Recht zu haben, um Bestätigung zu finden, um den Anderen vom eigenen Glauben zu überzeugen.
Anstelle dessen schickt es sich für moderne Menschen, Glauben gemeinsam zu hinterfragen und zu erforschen.
Denn ein Glaube, der tradiert ist, und nicht der eigenen geistigen Tätigkeit entspringt, unterliegt der Unvollkommenheit unserer Vorfahren. Irren ist schließlich menschlich.
Zeit ermöglicht Entwicklung und Forschung.
Dogmen wollen, dass die Zeit sich ihnen unterwirft.
Aber die Zeit will, dass Dogmen sich unterwerfen und sich der Forschung öffnen.
Mein Bittgebet
Unser Schöpfer
Du beschenkst uns täglich mit der Freude von neuem Leben und der Gnade des Lebensendes.
Wie viele von uns danken Dir dafür?
Du hast uns beschenkt mit Verstand und freiem Willen!
Wie viele von uns trauen sich dieses Geschenk anzunehmen?
Du hast uns beschenkt mit der Sprache!
Wie viele von uns nutzen sie, wenn es darauf ankommt miteinander zu reden,
um zu retten, zu erlösen, zu erfreuen, zu beglücken?
Du liebst uns mehr als eine Mutter ihr Kind!
Wie viele von uns nehmen das als Orientierung in unserem Miteinander?
Du bist der beste Kenner Deiner Geschöpfe, indem Du uns näher bist als unsere Halsschlagader (Koran 50/16).
Wie viele von uns üben sich in Zurückhaltung mit Verurteilungen?
Du bist der fürsorglichste aller Lehrer und unser Leben ist der beste Lernort: mit Deinen Empfehlungen und Ermahnungen, Deiner Geduld und unserer Lebenszeit verfügen wir über viele Chancen für unsere Entwicklung zur Glückseligkeit.
Wie viele Deiner Schüler haben das schon verstanden?
Du lässt uns nie im Stich, wenn wir Dich brauchen!
Wie viele von uns wissen diese Freundschaft zu nutzen und zu schätzen?
Unser Schöpfer
Hilf uns, unsere Sturheit und Rechthaberei zu überwinden.
Damit wir uns in unseren Nöten ernst nehmen und uns in unseren Freuden unterstützen.
Schütze und erhalte uns unsere Liebesfähigkeit und unseren Verstand! Auf das wir uns Deiner geheimnisvollen und großartigen Schöpfung in Vielfalt öffnen, ohne uns Ängste einreden zu lassen und begreifen lernen durch eigene Erfahrungen!
Amen/Amin
Verschiedene Weltsichten und Kulturen sind dazu da, um sich näher zu kommen.
Jeder hat etwas, was er dem anderen für seine Bereicherung und Freude anbieten kann. In einem Kreis von jungen Leuten fragte ich neulich in die Runde: was könnten wir uns gegenseitig anbieten? Ich würde euch sofort die „Tahara“ ans Herz legen, die Hygiene auf dem Klo, die neuerdings als Po-Dusche in deutschen Haushalten Einzug hält. Und ihr? Eine der Teilnehmerinnen antwortete: Tanzen.
Für mich steht im Mittelpunkt die persönliche Beziehung zu Gott, ein Annäherungsprozess, der Selbsterkenntnisprozess, eine Liebesbeziehung, aus der ich als Mensch gestärkt gehe, um mein Leben zu bewältigen und mit Bewusstsein zu leben. Islam ist die Bereitschaft und der Beginn eines lebenslangen Entwicklungsprozesses in Gemeinschaft mit Gott und seiner gesamten Schöpfung.
Seit 13 Jahren ist mein Leben ohne das Kopftuch sehr angenehm, sicherer und gleichberechtigter als mit meinem Kopftuch. Denn es legte meine Identität fest, uniformierte meine Wahrnehmung von Lebenswelten und zog klare Grenzen zwischen der 1400 jährigen Vergangenheit, der ich mich untergeordnet hatte und meiner modernen Außenwelt des 21. Jahrhunderts.
Das ist nicht verwerflich oder bedrohlich. Eine Frau, die sich freiwillig entscheidet, einer Tradition treu zu sein ist genauso zu respektieren wie eine Frau, die sich für die moderne Gegenwart entscheidet.
Verwerflich und bedrohlich ist es jedoch, wenn Frauen gezwungen werden und Frauen sich zwingen lassen, gegen ihren Willen zu handeln und zu leben.
Gottes Worte, ohne dabei Gott zum Autoren zu ernennen.
Ein Prozess von 23 Jahren.
Die Sendung an einen Auserkorenen in der arabischen Wüste.
Das geschnürte Paket mit Gottes „99 Namen“.
Ein wohlklingendes Gebetsbuch.
Es ist Liebe, wenn du den anderen verstehen willst.
Es ist Liebe, wenn du den anderen verstehen kannst.
Es ist Liebe, wenn du den anderen erfühlen kannst.
Es ist Liebe, wenn du den anderen mit der Kraft der eigenen Stärke in all seinen Facetten ertragen kannst.
Es ist Liebe, wenn du seinen Schwächen mit Verständnis begegnen kannst.
Es ist Liebe, wenn du seine Stärken als Segen für dich akzeptieren kannst.
Es ist Liebe, wenn du deinen Lebenssinn in seiner Existenz erkannt hast.
Es ist Liebe, wenn dein Sehnsuchtsfeuer nicht erlöschen will.
Es ist diese Liebe, die mich auf den Beinen hält.
Es ist auch diese Liebe, die täglich unermüdlich meinen Mut zur Hoffnung und meinen Willen zu atmen herausfordert.
Emely
© 2024 Emel Zeynelabidin